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Lotus Evora 400 (2017)

Andere Länder, andere Sitten

26.03.2018 10:01 Uhr

Text: Joshua Hildebrand | Fotos: Markus Leser


Um festzustellen, dass Engländer andere Bräuche und Umgangsformen pflegen, braucht es nicht unbedingt eine Reise auf die Insel – Lotus fahren reicht. Hier kommt unser Sportwagen-Knigge mit einem Evora 400.

Engländer mögen unterkühlt sein. Vielleicht auch ein wenig arrogant – das mag Ansichtssache sein. Sicher ist auf jeden Fall, dass Briten ganz strikt ihre Bräuche haben und sich diese auch sicherlich nicht nehmen lassen. So ist das „Daily Business" von einer ganz eigenen Dynamik geprägt – auch wenn das „Breakfast-Lunch-und-Dinner-Modell" ganz dem Deutschen ähnelt. Die Inbetriebnahme des Wasserkochers ist wohl die erste Amtshandlung eines Engländers, bevor überhaupt etwas passiert. Denn „tea time" ist immer und überall angesagt und ein „mug" (Pott Tee) steht immer irgendwo in Reichweite – das gehört zur englischen Kultur wie kaum etwas anderes.

Mehrheit geht an China

Sportwagenhersteller Lotus, welcher in Hethel bei Norwich beheimatet ist, gehört heutzutage sicherlich ebenfalls zum Kulturgut der Engländer. Auch wenn Lotus schon lange nicht mehr im Besitz jener ist und erst vor Kurzem durch die Übernahme des chinesischen Unternehmens Geely (51 Prozent Anteile) in die Schlagzeilen gelangte, fühlen sich noch viele „Insulaner" mit der Marke verbunden. Für andere wiederum dürfte es schmerzhaft sein, dass die Fäden nun im Ausland gezogen werden. Was aber bei allen bleibt, ist sicherlich die Hoffnung, dass Lotus irgendwann mal wieder „richtig groß" und konkurrenzfähig wird. Mit dem „x-ten" Verkauf von Lotus, einem Lotus-SUV für 2020 und zig weiteren Studien ist inzwischen sogar die Rede von Elektro-SUVs und Viertürern, welche dem Sportwagenbauer aus Großbritannien zu neuer Größe verhelfen sollen. Ein gewollter und bewusster Stilbruch, wie Lotus-Boss Jean-Marc Gales mehrfach betonte. Grausig? Mal sehen. Evora, Exige, Elise oder 3-Eleven wird es dennoch weiter geben, da sind wir uns sicher. Haben jene Modelle nämlich für das Überleben der Marke gesorgt. Und ob noch mehr Sondereditionen als ohnehin schon das Licht der Welt erblicken, juckt im Endeffekt auch niemanden mehr. Fakt ist: Dem wahren Lotus-Enthusiasten ist die tatsächliche Entwicklung der Marke ein Dorn im Auge. Nicht nur der Tradition halber. Nein. Denn die neue Ausrichtung der Marke wird auch mit einer grundsätzlichen Erhöhung des Fahrzeuggewichts einhergehen ... Heißt es dann womöglich: Goodbye, Leichtbau – goodbye, Tradition?!

Fast schon beruhigend

Zunächst genieße ich als bekennender „English-Breakfast"-Fan meinen kross gebratenen Speck mit Spiegeleiern. Bevor ich dann noch Bohnen und Pilze zu mir nehme, lasse ich den doch ziemlich spärlich wirkenden Schlüssel des Evora 400 auf mich wirken. Dieser ähnelt stark dem eines Ford Mondeo. Auf der einen Seite beruhigend, weil dieses Puristische so vertraut erscheint. Auf der anderen Seite aber fühlt es sich auch ein bisschen widersprüchlich an, wenn man sich den Grundpreis von gut 96.000 Euro und den Vorsatz von Lotus betrachtet, in die Liga eines Porsche oder Ferrari aufzusteigen. Wer Lotus mag, mag das Einfache. Und eben auch einen solchen Schlüssel. Wie gesagt: Ein bisschen beruhigend ist das schon, obwohl der Evora ja wirklich das komfortabelste und alltagstauglichste Auto der Engländer ist: Navigationssystem, Klimaanlage, beheizbare Lederschalen oder Rückfahrkamera sowie ein optional erhältliches 6-Gang-Automatikgetriebe kann man in einem Lotus eigentlich nicht erwarten. Eigentlich ...

Wer braucht schon Tee?

Wir nicht! Denn der Evora 400 ist ein Wachmacher für den Alltag – zumindest verglichen mit seinen Brüdern und Schwestern aus Hethel. Dabei macht er einiges besser als sein Vorgänger Evora S. Die 406 PS des 3,5-Liter-Toyota-Motors gehen dank neuem Kompressor, neuem Ladeluftkühler und veränderter Motorelektronik richtig beherzt zu Werke. Das müssen sie aber auch, denn dieser Lotus ist kein Leichtgewicht: Mit knapp 1.400 Kilogramm wiegt der Wagen ähnlich viel wie ein aktueller Porsche 911 Carrera – Alleinstellungsmerkmal Leichtbau? Fehlanzeige! Um diese Masse auf 100 km/h zu beschleunigen, bedarf es etwas mehr als 4,2 Sekunden – je nach Reifen- und Fahrbahnverfassung. Zudem hat das Sportcoupé klangtechnisch einen riesigen Sprung zu seinem Vorgänger gemacht und pustet bei geöffneter Klappe derart brachial in Richtung Verfolger, dass Passanten reihenweise mit dem Kopf schütteln oder gar einen Vogel zeigen. Das liegt weniger an meiner Unvernunft als vielmehr an der Abgasanlage, welche vollends aus Titan besteht und via Fahrmodi (Drive/Sport/Race) oder per Direkttaste angesteuert werden kann. „Excuse me, but this is not my fault." Denn ich kann nichts dafür, wenn sich das Teil anhört, als ginge ein Rohr direkt von der Brennkammer ab und zöge sich bis zum markant in der Mitte sitzenden Endrohr durch. Man muss ehrlich zugeben: Das ist erste Sportwagen-Sahne ohne Soundaktuator. Herrlich.

Kopfverdreher

Du möchtest unbeobachtet mit dieser britischen Schönheit sein? Kannst du vergessen. Denn während wir zivilisierteres Gebiet erreichen, hängt schon ein Unwissender am grün-gelben Emblem und fragt, um was für ein Auto es sich hier handle. Denn dieser hier erzielt den ähnlichen Kopfverdreher-Effekt wie ein Lambo – darauf müssen sich Lotus- und vor allem Evora-Fahrer einstellen! Quasi „einstellen" müssen sie sich auch auf die überraschend solide Qualität, was im Grunde genommen für einen Engländer echt nicht von schlechten Eltern ist. Und trotzdem – was bleibt: ein bisschen Plastik hier, ein bisschen Knarzen da. Dabei wurde bei der Entwicklung penibel auf die Kosten geachtet. Der 400 entstand quasi zum Entwicklungspreis eines 911-Armaturenbretts. Nach umfassender Analyse von Gales hat man die Prozesse und Teile so weit optimiert, dass das Modell jetzt sogar noch günstiger gebaut werden kann als der erste Evora – bei noch mehr Qualität.

Präzise Fahrmaschine, wenn ...

Dieser „British Chic" hat aber auch seine Grenzen. So wie Schottland und Wales zu England eben. Denn jetzt ist Vollgas angesagt: Dabei erfreuen wir uns am knackigen Schalter mit Alu-Kugel, inklusive geiler Haptik. Wir sind froh, dass die Handarbeit noch einen Stellenwert bei Lotus hat. Auch darüber, dass mit dem manuellen Getriebe auch erstmals eine mechanische Differenzialsperre von Quaife verbaut ist, welche die Drehzahlunterschiede an den Antriebsrädern verhindert und somit leichter zum Driften einlädt. Der Lotus Evora begeistert im Großen und Ganzen als präzise Fahrmaschine, vorausgesetzt, der Fahrer ist auf Zack. Der Evora möchte immer unter Zug gefahren werden, denn vor allem dank der Maximal-Drehmoment-Verlagerung auf 3.500 Touren (vorher 4.500) fühlt er sich unten heraus giftiger und zugleich etwas zickiger an, schwänzelt auch gern mal mit dem Heck. Typisch für einen Mittelmotor? Ja, wobei die sehr spät einsetzenden ESP-Impulse den Fahrer an der langen Leine halten – das gefällt. Einziger Kritikpunkt: Während all der Grenztreiberei verhält sich das Fahrwerk, eine Kombination aus Bilstein-Dämpfern und Eibach-Federn, immer ein bisschen zwiegespalten: im Alltag schroff bis holprig und auf der Rennstrecke heiter wankend. Ein Adaptivfahrwerk gäbe dem Wagen sicherlich den letzten Schliff. Dennoch wäre es gelogen zu sagen, der Evora wäre nicht gut fahrbar. Und sind wir doch mal ehrlich: Verzicht war schon immer eines der Aushängeschilder von Lotus – mal mehr, mal weniger. So ist das eben bei einem polarisierenden Charaktertypen, egal ob Engländer oder nicht. Eben eine andere Sicht der Dinge.

„Sympathisch anders" – ★★★★ (4 von 5 Sternen)

„Der Lotus Evora steht voll und ganz in der Lotus-Tradition", so steht es in der Verkaufsbroschüre beschrieben. Diese Aussage können wir nur bedingt bestätigen, denn das Leergewicht von rund 1.400 Kilogramm ist kein Vergleich zu den wahren Leichtbau-Tugenden der Marke, wie es bei einer Elise der Fall ist. Auch gibt sich der Evora erstaunlich gut verarbeitet und wartet sogar mit einer gewissen Portion Komfort auf – auch das ist nicht unbedingt gang und gäbe in Hethel. Trotzdem beeindruckt dieser Engländer als Fahrmaschine mit einer spannenden Optik, guten Fahrleistungen sowie einem filigranen Handling. „Not amused" sind wir vom unentschlossenen Fahrwerk, welches für den Alltag zu holprig, aber für die Rennstrecke zu weich abgestimmt ist.

DATEN & FAKTEN 

LOTUS EVORA 400 (2017)

MOTOR  Wassergekühlter Aluminium-V6 mit 3,5 Litern Hubraum; vier Ventile pro Zylinder; Edelbrock-Kompressor
FAHRWERK  Geschmiedete Aluminium-Doppelquerlenkerachse und Stabilisatoren mit Eibach-Federn und Bilstein-Dämpfern
RAD/REIFEN  Lotus-Leichtmetallfelgen im 10-Speichen-Design schwarz-glänzend ; Michelin-Pilot-Sport-Bereifung in 235/35 R19 vorn und 285/30 R20 hinten
KAROSSERIE 1.395 kg Leergewicht; Sport-Heckdiffusor; dreiteiliger Heckspoiler; Dach, Schweller und Spiegelkappenschwarz-glänzend lackiert (Black-Paket)
CAR-HIFI Touchscreen-Multimedia-System von Alpine mit vier Lautsprechern; Rückfahrkamera
INTERIEUR Leder-Paket in Rot, Armaturentafeloberseite in Leder mit Doppelkontrastnähten; Schalthebelmanschette, Handbremshebel, Sportlenkrad mit 12-Uhr-Markierung, Sitze, Türeneinsatz und Mittelkonsole in Leder
BREMSEN zweiteilige gelochte und innenbelüftete Bremsscheiben; 370 mm x 32 mm vorn und 350 mm x 32 mm hinten; Vier-Backen-Sättel von AP Racing; Bremssättel in Rot mit schwarzem AP Racing-Logo
AUSPUFF Abgasanlage mit Klappenauspuffsteuerung
GETRIEBE  Manuelles 6-Gang-Schaltgetriebe; Aluminiumschalthebel
FAHRDATEN  406 PS bei 7.000 U/min; 410 Nm Drehmoment bei 3.500 U/ min; 4,2 Sekunden von 0 auf 100; Vmax: 300 km/h (Handschalter)
GRUNDPREIS  ab 96.000 Euro (ohne Extras, Stand 2017)
DANKE AN  Autohaus-Gruppe Auer (Lotus-Vertragshändler) in Stockach am Bodensee, www.auer-gruppe.de, Tel.: 07771/93050